Sozialgeschichte und histoire culturelle – Perspektiven einer neuen römischen Sozialgeschichte (2009-2012)

In Frankreich evoziert der Begriff “histoire sociale” eine Geschichte der sozialen Klassen, die sich auf marxistische Ansätze gründet und eng mit der Wirtschaftsgeschichte, deren seriellen und quantitativen Methoden, verbunden ist. Der Begriff der “Sozialgeschichte” jedoch lässt deutsche Althistoriker sofort an die Debatte zwischen Friedrich Vittinghoff und seiner “Schule” einerseits, und Géza Alföldy andererseits denken: Die Diskussion drehte sich um die Frage, ob man die Struktur der römischen Gesellschaft mithilfe moderner Konzepte sozialer Klassen und Schichten erfassen könne. Der Begriff “Kulturgeschichte” wiederum, den man in der deutschsprachigen Forschung immer noch stark mit Jacob Burckhardt verbindet, entspricht keineswegs dem, was französische Wissenschaftler unter den Terminus “histoire culturelle” fassen; doch haben beide Begriffsvarianten nur wenig gemein mit den Ansätzen, welche unter den englischen Begriff “Cultural Studies” fallen. “Histoire culturelle” in seiner französischen Bedeutung ist die Tochter der “Histoire des mentalités”, die laut Pascal Ory eine “histoire sociale des représentations” sei. Sie behandelt politische Institutionen, Reflexionsmodelle, Umstände der Entstehung und sozialen Einfluss der Literatur, der Rhetorik, der Philosophie und der Künste. 

Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte haben sich zahlreiche neue Ansätze und Methoden entwickelt, sowohl in der Alten Geschichte, als auch in den benachbarten Disziplinen. So wurden seit den 80er Jahren viele Studien betrieben, die sich auf einen Zugang der historischen Anthropologie oder der Geschlechtergeschichte gründeten. Das vorliegende Projekt verfolgte das Ziel, diese neuen Ansätze in eine Sozialgeschichte der römischen Kultur zu integrieren, welche die Kluft zwischen einer französischen histoire culturelle und einer deutschen Sozialgeschichte überwinden sollte. 

Methodologische und theoretische Aspekte spielten in diesem Forschungsprojekt eine zentrale Rolle. Während andere neuere Arbeiten den einen oder anderen Forschungsansatz jeweils in isolierter Art und Weise verwenden, wurde im Projekt des CBR untersucht, wie fruchtbar eine Verknüpfung der Ansätze und Modelle aus Soziologie, historischer Anthropologie, Mikro- und Alltagsgeschichte, Geschlechtergeschichte, und Diskursforschung ist, und welche Berührungspunkte die jeweiligen Ansätze haben. Als Untersuchungsobjekt wählte das Projekt eine spezifische Situation – einen Ort und eine Epoche, die durch eine Anzahl an verschiedenen Quellen ausreichend dokumentiert ist und so eine Untersuchung auf der Basis der genannten Ansätze ermöglichte. Die Realisierung des Vorhabens erforderte eine transdisziplinäre Vorgehensweise: Daran hatten nicht nur Historiker, sondern auch Archäologen und Klassische Philologen teil – weshalb auch die Kolleginnen und Kollegen anderer altertumswissenschaftlicher Institute, die sich im CBR zusammengeschlossen haben, zur Mitarbeit eingeladen waren. 

Der Rahmen des CBR ist bestens dazu geeignet, die Kompetenzen zusammenzuführen, da der Verbund nicht nur selbst Forscher zweier nationaler Traditionen der Altertumskunde vereint, sondern ebenfalls erlaubte, die Wissenschaftler mit diesen verschiedenen Hintergründen in einer Forschungsgruppe einander näherzubringen. Auf diese Weise wurde eine grosse Bandbreite an Perspektiven garantiert, die bei individuellen Projekten nie gegeben wäre. Das Projekt des CBR wurde von Thomas Späth und Eckhard Wirbelauer geleitet und ist 2021 als Band 9 der CBR Schriftenreihe publiziert worden.