Über die Toten zu den Lebenden

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An der Professur für Ur- und Frühgeschichte werden fragestellungsbasierte Forschungsschwerpunkte entwickelt, die einer theoriegeleiteten und integrativen Archäologie verpflichtet sind. Diesem Forschungsprofil ist auch das Projekt “Über die Toten zu den Lebenden: Menschliche Überreste vom Spätlatènezeitlichen Fundplatz Basel-Gasfabrik und ihre kulturgeschichtlichen Deutungen“ verpflichtet. Der spätkeltische Fundplatz liegt am linken Rheinufer und wurde 1911 beim Bau des städtischen Gaswerks entdeckt. Seither fanden zahlreiche archäologische Untersuchungen statt, in deren Verlauf eine mindestens 15ha grosse Siedlung sowie zwei Gräberfelder aus der Zeit von etwa 150 bis 80 v. Chr. entdeckt wurden.

Bisher liegen erst punktuelle Auswertungen vor, so dass nach 100 Jahren Ausgrabungen die systematische Auswertung dieser für die europäische Eisenzeitforschung wichtigen Fundstelle ein dringendes Desiderat darstellte. Das erwähnte Projekt ist die erste Etappe der Gesamtauswertung, das bei den sterblichen Überresten der ehemaligen BewohnerInnen der Siedlung ansetzt. Die interdisziplinäre Auswertung der Skelette ist der unmittelbarste Zugang zum Leben am Rheinknie in spätkeltischer Zeit: Mit Hilfe bioarchäometrischer und anthropologischer Untersuchungen geben die Skelette Aufschlüsse über allgemeine und individuelle Lebensbedingungen, über den Genpool der Bevölkerung, über Ernährungsgewohnheiten und die geographische Herkunft bzw. Mobilität von Individuen.

In Kombination mit archäologischen Funden und Befunden können darüber hinaus Erkenntnisse zu den sozialen Verhältnissen und zum Totenbrauchtum gewonnen werden. Für die spätkeltische Zeit ist ein aussergewöhnlich vielgestaltiger Umgang mit Toten festzustellen, der in Basel-Gasfabrik gut dokumentiert ist: Neben der Bestattung auf einem Friedhof sind hier auch die Deponierung von ganzen Körpern, Körperteilen, einzelnen Schädeln und Einzelknochen in Siedlungskontexten (u. a. in Gruben, Brunnen, Gräben) belegt. Etliche Einzelknochen weisen Hundeverbiss oder Brand- und Schnittspuren auf, andere Skelettelemente und sämtliche Bestattungen auf den beiden Gräberfeldern wurden hingegen sehr schnell einsedimentiert. Ein zentrales Ziel des Auswertungsprojekts ist es deshalb, die verschiedenen Formen der Totenbehandlung zu rekonstruieren und Hypothesen zu entwickeln, welchen Bevölkerungsgruppen welche Behandlung zu Teil wurde.

Das Projekt hat eine Laufzeit von 2011 bis 2013 und wird unter dem Lead der Archäologischen Bodenforschung Basel-Stadt (ABBS) und in Kooperation mit der Integrativen Prähistorischen und Naturwissenschaftlichen Archäologie (IPNA), dem Institut für Anthropologie der Universität Mainz und dem Institut für Medizinische Biometrie und Informatik der Universität Freiburg durchgeführt.

Es wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF), der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel (FAG) und der ABBS finanziert. Aufbauend auf den erzielten Ergebnissen soll die Gesamtauswertung der Fundstelle im Rahmen weiterer Projekte vorangetrieben werden.

Literatur

S. Pichler et al. 2015

Pichler Sandra/Hannele Rissanen/Spichtig Norbert, Ein Platz unter den Lebenden, ein Platz unter den Toten: Kinderbestattungen aus dem latènezeitlichen Fundplatz Basel-Gasfabrik. in: Kory, Raimar W. (Hg.): Lebenswelten von Kindern und Frauen in der Vormoderne, Archäologische und anthropologische Forschungen in memoriam Brigitte Lohrke, PAST Paläowissenschaftliche Studien 4, Berlin 2015, 257-273.

Rissanen et al. 2013
Hannele Rissanen/Sandra Pichler/Norbert Spichtig/Kurt W. Alt/David Brönnimann/Corina Knipper/Marlu Kühn/Philippe Rentzel/Brigitte Röder/Jörg Schibler/Barbara Stopp/Werner Vach/Ole Warnberg/Guido Lassau, „Wenn Kinder sterben…“ – Säuglinge und Kleinkinder vom latènezeitlichen Fundplatz Basel-Gasfabrik (Kanton Basel-Stadt, Schweiz). In: Stefanie Wefers/Jana Esther Fries/Janine Fries-Knoblach/Christiana Later/Ulrike Rambuschek/Peter Trebsche/Julian Wiethold (Hg.), Bilder – Räume – Rollen. Beiträge zur gemeinsamen Sitzung der AG Eisenzeit und der AG Geschlechterforschung während des 7. Deutschen Archäologenkongresses in Bremen 2011. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas 72. Langenweißbach, 127-142.

Pichler et al. 2013
Sandra Pichler/Hannele Rissanen/Norbert Spichtig/Kurt W. Alt/Brigitte Röder/Jörg Schibler/Guido Lassau, Die Regelmässigkeit des Irregulären: Menschliche Skelettreste vom spätlatènezeitlichen Fundplatz Basel-Gasfabrik. In: Nils Müller-Scheeßel (Hg.) ‚Irreguläre‘ Bestattungen in der Urgeschichte: Norm, Ritual, Strafe ...? Akten der Internationalen Tagung in Frankfurt a. M. vom 3. bis 5. Februar 2012. Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte 19. Bonn 2013, 471-484.

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