/ Research / Arbogast Schmitt
Achill kannte sich wieder vor Kampfbegier
An subtiler Menschenkenntnis ist Homer der Nachwelt überlegen: Auch das zeigt der Basler Kommentar, an dem seit einem Vierteljahrhundert gearbeitet wird.
Homers Werke, die Ilias wie die Odyssee, haben in der europäischen Literatur eine herausragende Stellung. Sie galten von der ersten Stunde an als beinahe unnachahmliche Meisterwerke und wurden seit mehr als 2500 Jahren immer wieder neu und mit Begeisterung gelesen. Denkt man an die vielen Wandlungen, ja Umbrüche, die sich seither nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Religion, der Wissenschaft und in vielen weiteren Bereichen der Kultur vollzogen haben, ist das mehr als erstaunlich. Denn ein Bewusstsein für den geschichtlichen Abstand der eigenen Zeit von Homer hatte man schon in der Antike. Aus ihm entwickelte sich eine wissenschaftliche Philologie, die vor allem in der Zeit des sogenannten Hellenismus (circa 300 vor bis 100 nach Christus) ein hohes Niveau erreichte, das dem unserer gegenwärtigen Forschungen vergleichbar und oft sogar überlegen war. Ziel dieser Homer-Philologie war, sich das fremd gewordene Alte verständlich zu machen und anzueignen. Geleistet wurde diese Vermittlung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit vor allem in bis heute gerühmten Werk-Kommentaren.
Erst das im neunzehnten Jahrhundert aufkommende historische Denken, welches das geschichtlich Vergangene nicht nur für erklärungsbedürftig, sondern für unvergleichlich mit der eigenen Zeit hielt, führte zu einem wirklichen Bruch auch mit Homer. Einerseits trennte man nun zwischen der ästhetischen Qualität seiner Dichtungen und seinem Menschen-, Welt- und Gottesbild, das man aus seinen geschichtlichen Bedingungen erklären könne, das aber nicht mehr als relevant für das eigene Weltverständnis sei. Andererseits konnte man Homer allerdings nur deshalb immer noch bewundern, weil man bei ihm die ersten Anfänge unseres eigenen Denkens, „Die Entdeckung des Geistes“ (so der Titel eines Buches von Bruno Snell mit breiter Wirkung), zu finden meinte.
Die Vorstellung von Homer als einem allerersten Anfang europäischen Denkens, der als dichterisches Genie noch ganz aus sich allein schöpfte, in dem noch die Natur in sinnlich-geistiger Einheit wirkte, oder, wie etwa Hegel lehrte, der Volksgeist selbst zum Ausdruck kam, ist allerdings, seit man die lange Tradition (circa 500 Jahre) mündlicher Dichtungen vor ihm entdeckte, ganz unhaltbar geworden. Wie oft bei Neuentdeckungen gab es aber auch bei dieser die Tendenz, zu viel dem neuen Bild unterzuordnen. Vor allem die Homeriker im englischsprachigen Raum waren überzeugt, man müsse Homer ganz aus den Bedingungen mündlichen Dichtens erklären. Im deutschen Sprachraum war es namentlich der Gräzist Joachim Latacz, der die Ergebnisse dieser „oral poetry theory“ aufgriff, ihre Vorformen im neunzehnten Jahrhundert aufdeckte und zu einem Allgemeingut auch der deutschen Homer-Interpretation machte.
Latacz führte die Diskussion über die Art von Dichtung, die uns in den Epen Ilias und Odyssee vorliegt, aber zugleich einen grundlegenden Schritt weiter, und dieser neue Schritt war gleichsam die Geburtsstunde für die Konzeption eines neuen Kommentars, zunächst zur Ilias. Besonders die Forschungen von Latacz zum kompositorischen Aufbau der homerischen Epen hatten das klare Ergebnis gebracht, dass Homer kein mündlicher Dichter war wie die vielen, die vor ihm von dem Krieg der Griechen gegen die Trojaner erzählt hatten. Er beherrschte alle Techniken des mündlichen Erzählens, aber wendete sie auf eine völlig neue Weise an, weil er kein Anfang, sondern ein reflektierter Abschluss war und damit zugleich Anfang einer von Grund auf neuen Art zu dichten.
Man erfährt die ganze Geschichte aus Nachrichten über zehn Tage
Ein äußeres, für jeden Leser auffälliges Indiz dieses neuen Dichtungsverständnisses ist, dass man die Ilias zwar mit dem Eindruck, die ganze Geschichte des Trojanischen Krieges kennengelernt zu haben, aus der Hand legt, tatsächlich aber nur von einer einzigen Handlung, die sich über gut fünfzig Tage hinzog, unterrichtet wurde, von denen Homer zudem nur circa zehn Tage (mit etlichen dazugehörenden Nächten) ausführlich dargestellt hat. Zehn Jahre in zehn Tagen. Das allein zeugt schon von einer genialen Erzählstrategie. Sie zu ermitteln und in allen ihren Facetten zu verstehen, das ist das Anliegen des seit 26 Jahren erarbeiteten Kommentars, den Joachim Latacz an der Universität Basel begründet hat. Als Projektleiter firmiert heute sein Lehrstuhlnachfolger Anton Bierl. Programmatisch verlautete beim Beginn des Projekts: „Generell will der Kommentar nicht esoterischen Interessen dienen, sondern die Kunstqualität und die Wirkungsmacht des Anfangswerks der europäischen Literatur wieder stärker ins Bewusstsein der literarisch Interessierten rücken.“
Von den 24 Gesängen der Ilias ist inzwischen die Hälfte ediert, übersetzt und kommentiert. Das internationale Ansehen, welches das Kommentarwerk gleich beim Erscheinen des ersten Bandes im Jahre 2000 (es gibt zu jedem Gesang einen eigenen Text- und Übersetzungs- und einen Erklärungsband) gewonnen hat, zeigt sich auch daran, dass sie, unterstützt durch die Stavros Niarchos Foundation in New York, gleich ins Englische übersetzt wurden.
Wenn es darum geht, die Besonderheit der homerischen Dichtkunst zu ermitteln, und zwar auf der Höhe heutiger wissenschaftlicher Möglichkeiten, musste das umfassend geschehen. Man weiß heute sehr viel mehr über die geschichtliche Situation, von der Homer berichtet. Archäologen (darunter der 2005 verstorbene Manfred Korfmann), Vor- und Frühgeschichtler, Hethitologen, Orientalisten, Sprachwissenschaftler, Ägyptologen sind daher an der Kommentararbeit beteiligt, ihre Ergebnisse werden durchgängig berücksichtigt. Eine weitere Besonderheit ist, dass Latacz auch die ganze Geschichte der Homer-Kommentierung seit der Antike kennt und daraus die Folgerungen für das, was schon geleistet ist und was erst geleistet werden muss, ziehen konnte. Jeder der seit 2500 Jahren weltweit erschienenen Kommentare zu Homer ist daher in die eigene Interpretationsarbeit einbezogen. Nimmt man die Narratologie, die Linear-B-Forschung und andere Tendenzen hinzu, kann man sagen, dass mit dem Basler Ilias-Kommentar nicht irgendein konventioneller Kommentar vorliegt, sondern eine für die Zukunft einmalige Zusammenfassung der bisherigen und damit das Fundament jeder weiteren Homer-Forschung.
Die Leistung dieses Kommentars liegt vor allem in der vielfältigen Detailerklärung, die sich nicht einfach zusammenfassen lässt. Das, was der Kommentar zum Verständnis der Kunstqualität der Ilias leistet, soll aber wenigstens knapp vorgestellt werden. Die Besonderheit der Ilias ist, dass sie keine Kriegsgeschichte bietet. Bei einer Geschichte weiß man nie, wann sie anfängt und wann sie endet. Jedem Anfang liegt viel voraus, und jedes Ende hat Fortsetzungen. Das ist bei der Ilias anders. Sie hat einen exakten Beginn und ein ebenso exaktes Ende. Sie ist, wie Latacz schon in eigenen Publikationen herausgearbeitet hat, eine Achilleis, eine Handlung Achills. Alles andere, was vor Troja noch passierte, wird von Homer auf diese Handlung bezogen, immer im Blick auf den Beitrag, den es dafür leistet.
Der Drang zur Wiedergutmachung erzeugt den Berserker
Die Handlung beginnt mit einem Streit zwischen dem Oberbefehlshaber Agamemnon und Achill, und sie endet mit der endgültigen Beilegung dieses Streits. Sie entsteht, weil Agamemnon wegen einer Geliebten, die ihm wichtiger ist als seine Frau zu Hause, den Erfolg des gesamten Kriegszugs gefährdet. Achill, der das nicht hinnehmen will, wird von Agamemnon deshalb höhnisch gedemütigt, obwohl er seit Kriegsbeginn der alleinige Grund ist, weshalb die überlegenen Trojaner die Griechen nicht angreifen konnten. Den ganzen Mittelteil der Erzählung bilden die Folgen, die daraus entstehen, dass Achill nicht mehr mitkämpft, und die Darstellung des langsamen Wegs, in dem sich Achill wieder umstimmen lässt, weil er das Leid seiner Kameraden immer weniger mit anzusehen in der Lage ist, ohne wieder mitzuhelfen. Das tut er schließlich, er wird aber aus dem Drang, alles wiedergutzumachen, was er zuvor an Hilfe versäumt hatte, selbst zum „Berserker“, der keine Gnade mehr zu kennen scheint. Nach der vollzogenen Rache an Hektor, dem strategisch klugen Führer der Trojaner, kommt er wieder zu sich selbst, versöhnt sich sogar mit dem Vater dieses Hektor und legt seinen lang andauernden Zorn („Groll“) endgültig ab.
Dass man den ganzen Inhalt der 24 Bücher der Ilias in diesen wenigen Sätzen wiedergeben kann, macht das Meisterliche an diesem Werk aus, das dadurch „wohl überschaubar“ und „gut in Erinnerung zu behalten“ ist, wie schon Aristoteles feststellte. Er lobt die Einheit der Handlung, die dazu führe, dass man in ihrer Darstellung nichts umstellen und nichts weglassen könne, ohne dass sich das Ganze ändern würde. Der neue Kommentar verbindet diese alte Einsicht mit dem Wissen um die mündliche Vorgeschichte der Ilias. Dadurch kann gezeigt werden, dass die Erzählweise Homers tatsächlich eine revolutionäre Änderung gegenüber der mündlichen Tradition vor ihm ist. Er erzählt nicht der Reihe nach, wie die Ereignisse mehr oder weniger sinnvoll aufeinanderfolgen, sondern er hat die Ilias als eine in sich konsistente Handlung konzipiert, die dadurch in der Komposition der Handlungsfolge wie in der stilistischen Formung der Reden, in denen sich die Handelnden ihrem Charakter gemäß ausdrücken, eine viel konzisere Form der Einheit hat als alle anderen uns bekannten Erzählungen, die es rund um die Geschehnisse vor und nach Troja gegeben hat. Aristoteles hat Homers Epen deshalb zum Maßstab für das, was gute Literatur ausmacht, genommen.
Der Differenziertheit der Darstellungsweise entspricht Homers Charakterisierung der handelnden Menschen selbst. Achill ist, wenn wir uns der Kürze wegen auf ihn als die Hauptfigur beschränken, kein „Vieh“, auch keine Verkörperung des Zorns, sondern eine vielschichtige Person, die aber eine Mitte hat und nicht willkürlich immer wieder anders ist. Er ist mitfühlend, hilfsbereit, strebt nach Gerechtigkeit für alle, ist höflich, manchmal auch weich, kann sich aber auch heftig empören und dann fortdauernd grollen. Unterlegene schont er manchmal, in der Phase, in der er gar kein Mitgefühl mehr zeigt, handelt er aus einem Wiedergutmachungsdrang für all das Unglück, das er durch seinen Groll angerichtet hat.
Ähnlich differenziert wie bei der Charakterzeichnung verfährt Homer bei der Darstellung des Gesamtgeschehens. Die Ilias ist durch und durch ein Antikriegsbuch. Ganz außergewöhnlich ist, dass Homer Mitgefühl mit beiden Kriegsparteien erzeugt. Man weiß am Ende als Leser nicht, ob man mehr mit Achill oder mit Hektor, mit den Griechen oder den Trojanern mitdenkt und mitleidet. Auch die Schilderung der schrecklichen Gräuel des Kriegs verfolgt bei Homer nicht das Ziel irgendeiner verherrlichenden Heroisierung des Kriegs. So, wie er Achill auf dem Deck seines Schiffes stehen und die ungeheure Not seiner bedrängten Kameraden als unerträglich empfinden lässt, so ist sein Blick auf den Krieg überhaupt.
Die Liebe ist eine Weltmacht,keine private Erfindung
Auch die „allzu menschlichen“ homerischen Götter, von denen sich das christliche Abendland meinte abwenden zu müssen, sind keine Willkürgötter, die nach Lust und Laune Menschen schädigen oder fördern. Von Athene zum Beispiel, die bei Homer eine Göttin ist, die von sich sagt, sie verstehe sich auf den praktischen Vorteil, die also eine Göttin der praktischen Vernunft ist, berichtet Homer, dass jeder von ihr genau das bekommt, was er sich mithilfe seiner eigenen Vernunft zu verschaffen versteht. In späterer philosophischer Terminologie müsste man sagen, sie gibt jedem den Anteil an der Vernunft, den er sich selbst zu erschließen versteht. Mit Odysseus spricht sie wie von Gleich zu Gleich und zeigt oder bestätigt ihm, was gut und ein Vorteil für ihn ist. Telemach oder Achill unterstützt sie auch, aber nur in dem Maß, in dem sie für die Vernunft offen sind. So hält sie Achill davon ab, Agamemnon mit dem Schwert zu töten, sie lässt es aber dabei und unterstützt sogar noch (damit er sich überhaupt auf sie einlässt), dass er sich vom Kampf zurückzieht und Agamemnon zeigt, wie wenig er ohne ihn ausrichtet. Von Hektor, der sich einem offenen Kampf mit Achill stellen will, sagt Homer: Athene hatte ihm den Verstand genommen.
Die Überzeugung, dass jeder Mensch in dem Maß von den Göttern unterstützt oder geschädigt wird, in dem er für eine göttliche Macht empfänglich und fähig ist, ihr gerecht zu werden, kann als gemeingriechisch bezeichnet werden. Am Beispiel der Aphrodite als Göttin der Liebe kann man zudem verstehen, weshalb niemand auf den Gedanken kam, ihre Existenz zu leugnen. Die Liebe ist keine private Erfindung, sondern eine Macht in der Welt. Das in der subjektiven Selbstbestimmung Liegende beginnt damit, wie man mit ihr umgeht, ob man für sie empfänglich ist und wie man sich darauf einlässt. Analoges gilt für die Vernunft. Wenn jeder seine Privatvernunft hat, lebt jeder in seiner Welt, es gibt keine Verständigung.
Wer den Kommentar zur Ilias aus Basel studiert und sich durch ihn über die homerische Kompositionskunst, über sein Menschen- und Gottesbild informiert, lernt viel darüber, wie man auch aus einer vermeintlich fremd gewordenen Vergangenheit viel für sein eigenes Weltverständnis lernen kann. Nicht selten wird man feststellen, dass uns Homer in seiner subtilen Menschenkenntnis sogar überlegen ist. Er ist uns nicht fremd, die Verfremdung ist Resultat eines zu überheblichen Fortschrittsglaubens.
Im Basler Kommentar findet man über das hier nur knapp Berichtete noch unendlich viel mehr zur Erklärung, worauf die unglaubliche Wirkung der homerischen Dichtung beruht. Dabei nimmt der Kommentar Rücksicht auf unterschiedliche Leser. In auffallender Großschrift findet man das, was für das Verständnis der poetischen Anlage und Absicht der Ilias wichtig ist – für den an Literatur interessierten Leser. In etwas kleinerem Druck darunter steht das, was in einen wissenschaftlichen Kommentar gehört. Informationen zu Spezialdiskussionen gibt es, wo nötig, in Petit-Druck, eine Ebene tiefer. Ein zusätzliches Angebot für Studierende und Schüler macht ein „Elementarteil“ mit Erklärungen, wie sie der berühmte Vorgänger das Basler Kommentars (Ameis, Hentze, Cauer) in vielen Auflagen vor allem für die Schulen geboten hatte. Dieses Kommentarprojekt war nur möglich mit finanzieller Unterstützung durch den Schweizer Nationalfonds und beachtliche Zuwendungen schweizerischer und deutscher Sponsoren. Zu hoffen ist, dass insbesondere weitere öffentliche Geldgeber die Wichtigkeit der Fortsetzung und Fertigstellung des Basler Kommentars erkennen.