Amanda Gabriel

„Was, wenn nicht Ethnien?“ Eine netzwerkanalytische Perspektive auf die Vielfalt spätantiker und frühmittelalterlicher Bestattungen zwischen Bodensee, Hochrhein und Genfersee.

Zwischen 400 und 800 n. Chr. fand nach dem Rückzug des römischen Militärs und der späteren Auflösung des weströmischen Reiches auf dem Gebiet der ehemaligen römischen Provinzen ein politischer Transformationsprozess statt in dessen Verlauf sich unterschiedliche Nachfolgereiche mit ethnischen Bezeichnungen bildeten. Für den Raum der heutigen Schweiz werden in zeitgenössischen Schriftquellen Burgunder, Alamannen und Langobarden als einwandernde Bevölkerungsgruppen überliefert, denen in der archäologischen Forschung, gemäss ‚geographischem Prinzip’, meist die Bestattungen in den jeweiligen postulierten Siedlungsgebieten zugeschrieben wurden. Die kritische Auseinandersetzung mit dem ethnischen Paradigma, der unmittelbaren ethnischen Interpretation von Kleidungsbestandteilen, hat aber gezeigt, dass dieses auf mehreren simplifizierenden Annahmen beruht. Die Dekonstruktion des ethnischen Paradigmas hat zur Folge, dass Unterschiede bei frühmittelalterlichen Bestattungen und Gräbern, die lange als Stütze der ethnischen Interpretation galten, neu definiert und neu interpretiert werden müssen. Das vorliegende Dissertationsprojekt greift dieses Forschungsfeld auf und erarbeitet alternative Konzepte für eine theoriebasierte Quelleninterpretation, die an einer ausgewählten Datengrundlage validiert werden.

Ziel der Dissertation ist die Untersuchung von Kommunikationsnetzwerken, die anhand der räumlichen Verbreitung einzelner Merkmale der materiellen Kultur und der sozialen Praxis bei frühmittelalterlichen Bestattungen rekonstruiert werden. Dabei wird von den zentralen Untersuchungsvariablen Grabbau (Anlage des Grabes), Grabausstattung (Objekte im Grab) und Behandlung des Leichnams (Lage, Bekleidung, Deponierung) ausgegangen. Die Merkmale werden zusammen mit Angaben zur geographischen Lage des Grabes (Landeskoordinaten) in einer Datenbank erfasst. Die räumliche Verteilung der erhobenen Merkmale wird mithilfe von Methoden der Network Analysis untersucht. Dabei sollen sowohl von einzelnen Merkmalen wie auch von gleichen  ‚Merkmalskombinationen’ gebildete Netzwerke analysiert werden. Die Merkmalsverbreitungen werden ausgehend von den Methoden der Social Network Analysis (SNA) und der Actor-Network Theory(ANT) untersucht. Die rekonstruierten Kommunikationsnetzwerke der Akteure werden ausgehend von Ansätzen der Material Culture Studies und der Ethnoarchäologie interpretiert. Da die Interpretation auf Bestattungs- und Grabbefunden beruht, muss mithilfe von ethnographischen Vergleichen und Hinweisen aus Schriftquellen untersucht werden, wodurch ein Bestattungskult beeinflusst wird und welche Faktoren hinter dieser Vielfalt stecken können.

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Die Untersuchung soll ein differenzierteres Bild lokaler, regionaler und überregionaler frühmittelalterlicher Beziehungsnetzwerke liefern. Wenn es kulturelle Räume gegeben hat, wären diese als Resultat der Analyse als verdichtete Kommunikationscluster fassbar und als Ergebnis verstärkter Kommunikation zu verstehen. Es kann des Weiteren nachvollzogen werden, ob alle oder nur bestimmte Personen eines Gräberfeldes regional und überregional vernetzt waren. Dies erlaubt Rückschlüsse auf verschieden grosse Interaktionsräume und unterschiedliche soziale Gruppen. Durch die diachrone Betrachtungsweise ist es zudem möglich, die Verbreitung der kulturellen Praxis von Grabausstattungen nachzuvollziehen.