Auf den Spuren von Édouard Naville (1844-1926)

Beiträge und Materialien zur Wissenschaftsgeschichte des Totenbuches

(ein Projekt von Barbara Lüscher)

Der gebürtige Genfer Ägyptologe (Henri-)Edouard Naville (1844-1926) zählt zu den inter­nationalen Pionieren aus den Anfangsjahren dieses Faches. Er war Schüler und spezieller Protégé des Begründers der deutschsprachigen Ägyptologie, des Berliner Professors Carl Richard Lepsius (1810-1884), durch welchen Jean-François Champollions Entzifferung der ägyptischen Hiero­glyphen erst seine Bestätigung und den endgültigen Abschluss fand und der mit seinem bahnbrechenden Monumentalwerk der Denkmäler aus Aegypten und Aethiopien (1849-1859) einen neuen Standard für wissenschaftliche Publikationen etablierte. Edouard Naville, der aus einer schon seit mehreren Generationen in Genf ansässigen renommierten Familie stammte, absolvierte seine Studien in London, Bonn, Paris und Berlin, bevor er schliesslich in Genf ab 1891 den ersten Lehrstuhl für Ägyptologie bekleidete. Zu seinen grossen Leistungen zählen nicht nur seine archäologischen Publikationen – er führte als Erster für den damals in London neu gegründeten Egypt Exploration Fund Ausgrabungen in Ägypten durch –, sondern vor allem auch seine Editionen von religiösen Texten wie dem  Horusmythos von Edfu (1870), der Sonnenlitanei (1875) und besonders seine erstmalige Herausgabe einer kritischen Textausgabe des altägyptischen Totenbuches (Edouard Naville, Das Aegyptische Todtenbuch der XVIII. bis XX. Dynastie. 3 Bde. Berlin 1886). Angeregt wurde diese Arbeit von seinem Lehrer Richard Lepsius, auf den sowohl die moderne Bezeichnung „Totenbuch“ wie auch die bis heute gültige Sprucheinteilung dieses Textkorpus zurückgeht. Für die nachfolgenden über 120 Jahre bildete Naville’s Edition das Standardwerk für jegliche Beschäftigung mit diesem Textgut, das neben den Pyramidentexten des Alten, den Sargtexten des Mittleren sowie den königlichen Unter­weltstexten des Neuen Reiches zu den wichtigsten religiösen Textkorpora der alten Ägypter zählt. Da Naville’s Ausgabe allerdings inzwischen stark überholt und die Materialbasis seither um ein Vielfaches angewachsen ist, besteht seit 2004 ein Projekt zur Neu-Edition des Totenbuches des Neuen Reiches (eine Zusammenarbeit von Günther Lapp und mir), womit wir gewissermassen in Naville’s Fussstapfen treten und woraus sich auch in direkter Konsequenz mein vorliegendes Projekt ableitet, das mit einem Beitrag vom Lily-Baumann Fonds der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft unter­stützt wurde.  

Zu Naville’s Zeit lagen erst ganz wenige Totenbuch-Handschriften publiziert vor und die grösseren Museumssammlungen waren noch im Aufbau begriffen, so dass Naville nur eine sehr beschränkte Textauswahl zur Verfügung hatte und gleichzeitig viele Reisen zur Materialbeschaffung unternehmen musste. Viele seiner bei jener Gelegenheit handschriftlich kopierten Quellen sind aber auch danach nie publiziert worden, sondern flossen lediglich in Form von notierten Abweichungen und Varianten in seine Edition sein. Da die Photographie damals noch in ihren Anfängen steckte und aus Kostengründen nicht jedermann zur Verfügung stand, erstellte Naville zahlreiche eigene Abschriften und Durchzeichnungen und führte gleichzeitig eine rege Korrespondenz mit Fach­kollegen. In der Hoffnung, dass sich wenigstens Teile der damals gesammelten Unterlagen noch im Nachlass von Edouard Naville erhalten haben mögen, wurde ich in Genf tatsächlich fündig. Die bei der Durchsicht seiner Papiere und Briefe gefundenen Quellen bilden daher den Gegenstand meines Projektes. Da Naville’s damalige Abschriften oftmals einen heute aufgrund des fortschreitenden Zerfalls nicht mehr vorhandenen Zustand der Originale wiedergibt und in einigen Fällen sogar das Einzige sind, was wir inzwischen über die entsprechende Quelle noch wissen, ist deren Auswertung und Veröffentlichung von besonderem wissenschaftlichem Wert für die heutige Totenbuchforschung.