Projekt 1

Die Erfassung von Raum und Zeit in spätkeltischer Zeit –

Eine wissenschaftsgeschichtliche Analyse archäologischer und historischer Quellen

Christine Hatz, Rolf d’Aujourd’hui
 

Zeit und Raum sind in allen Kulturen Grundkategorien der menschlichen Lebenswelt.
Mit der Erfassung dieser Dimensionen werden Raum und Zeit zu einer kulturellen Grösse. Astronomische Beobachtungen und geometrische Berechnungen stehen am Anfang einer wissenschaftlichen Konzeption des Raumes und der Zeit.
Methodisch können Untersuchungen über die Erfassung von Raum und Zeit in der Antike  auf verschiedenen Wegen erfolgen: Einerseits über interdisziplinäre Analysen von relevanten historischen Überlieferungen, die allerdings für die SLT-Zeit spärlich sind, und anderseits über mathematische Analysen von archäologischen und topografischen Befunden aus dieser Epoche.

Unter der "Erfassung des Raumes" verstehen wir jedoch nicht nur die physikalische Vermessung, sondern auch die politischen, sozialen sowie kosmologischen und kognitiven Aspekte der Organisation des Raumes. In diesem Kontext stellt sich die Frage der Beziehungen zwischen der keltischen und der mediterranen Welt in geistiger und weltanschaulicher Ebene. Zur Diskussion steht unter anderem die Frage nach den Anteilen des autochthonen und des übernommenen Wissens aus dem griechisch-römischen Raum.
In diesem Sinne sind unsere Forschungsergebnisse als Beitrag für das Verständnis von Wissen und Weltbild der keltischen Elite in der Spätlatènezeit in einem Kontext mit der antiken Welt zu verstehen. 

 

Teilprojekt 1

Christine Hatz

Kenntnisse der spätkeltischen Elite in antiker Wissenschaft?         
                

1.1 Kenntnisse der mathematischen Geografie – Analyse und Neuinterpretation einer Textstelle von Julius Caesar aus dem De Bello Gallico

Ausgangspunkt für den historischen Zugang zum Thema ist eine Aussage Julius Cäsars innerhalb des bekannten Gallier-Exkurses in seinem Werk über den Gallischen Krieg.  „Sie (die Druiden) stellen ausserdem häufig Erörterungen an über die Gestirne und ihre Bahn, über die Grösse der Welt und des Erdkreises, über die Natur der Dinge, über die Macht und Gewalt der unsterblichen Götter und vermitteln all dies der Jugend.“ (« Multa praeterea de sideribus atque eorum motu, de mundi ac terrarum magnitudine, de rerum natura, de deorum immortalium vi ac potestate disputant et iuventi tradunt. ») (BG 6,14,6).                                  

Im Zentrum unserer Untersuchungen steht der Begriff « terrarum magnitudine », die Grösse der Erde. Die anderen Elemente der Aussage Cäsars, die die vielfältigen Aufgaben der Druiden wiedergeben, sind schon vielfach in der Forschung besprochen und analysiert worden. Die genaue Bedeutung der Worte terrarum magnitudine hingegen scheint noch nicht in ihrem wahren Kontext verstanden worden zu sein: nämlich als Hinweis auf Kenntnisse der mathematischenGeographie, insbesondere der wohl meist diskutierten Frage innerhalb dieser in hellenistischer Zeit aufkommenden Disziplin: Die Frage nach der realen Grösse des Erdumfangs. Der Umfang der Erdeist von einigen Gelehrten in antiker Zeit mit verschiedenen Methoden vermessen worden. Die wohl präziseste Erdvermessung ist für Eratosthenes von Kyrene bezeugt, der in der 2. Hälfte des 3. Jh. vor Chr. die Bibliothek von Alexandria leitete. Eratosthenes publizierte seine Erkenntnisse und weitere umfangreiche geographische Forschungen in diversen Schriften, unter anderem der Geographie.  Interessanterweise erwähnte Cäsar ausdrücklich, dass er bei der Verfassung des de Bello Gallico Schriften von Eratosthenes konsultierte.

Unsere Untersuchungen weiterführender historischer und archäologischer Quellen bezeugen der spätkeltischen und gallo-römischen Gesellschaft ein mathematisches Wissen über Zeit und Raum, das die Plausibilität der Aussage Caesars, laut derer Druiden über die Grösse der Erde diskutierten, zu bestätigen scheint. Im Besonderen die Analyse des monumentalen Beckens von Bibracte und des Kalenders von Coligny zeigt, dass die spätkeltische Elite sich für komplexe Raum-Zeit-Modelle interessierte und in der Lage war, eigenständige Konzeptionen dazu zu entwickeln.

Literatur:

Hatz, Christine, Kenntnisse der antiken mathematischen Geographie im Kontext einer spätkeltischen Elite?, In: R. Karl, J. Leskovar [Hrsg.] (2019), Interpretierte Eisenzeiten. Fallstudien, Methoden, Theorie. Tagungsbeiträge der 8. Linzer Gespräche zur interpretativen Eisenzeitarchäologie. Studien zur Kulturgeschichte von Oberösterreich, Folge 49, Linz, 253–266.

Hatz, Christine, A vocal communication system in the Gallic War, “Clamore per agros regionesque significant” (B.G. 7,3), in: A. Weidinger, J. Leskovar [Hrsg.] (2021), Interpretierte Eisenzeiten. Fallstudien, Methoden, Theorie. Tagungsbeiträge der 9. Linzer Gespräche zur interpretativen Eisenzeitarchäologie. Studien zur Kulturgeschichte von Oberösterreich, Folge 50, Linz, 205-212.
 

1.2 Spuren keltischer Zeitmessung in der späten Eisenzeit? 

Der „Coligny-Kalender“ wird als Objekt ins 2. Jh. n. Chr. datiert. Es haben sich jedoch bei der genaueren Analyse dieses Zeiterfassungssystems Hinweise darauf ergeben, dass der Kalender wahrscheinlich schon in der Eisenzeit schrittweise entwickelt wurde. Ausserdem haben die Untersuchungen und Rekonstruktionsvorschläge gezeigt, dass dieser Kalender eine ganz eigene - ebenso einfache wie raffinierte - Schaltregel beinhaltet, die Aufschlüsse über die Prinzipien seiner Konzeption geben kann. Es gibt nur sehr wenige weitere Quellen zu Formen der Zeiterfassung seitens der spätkeltischen und gallo-römischen Gesellschaft, einige davon sind im Kontext von Caesars De Bello Gallico und Plinius‘ Naturalis historia zu finden. Eine Textstelle steht in einem klaren Bezug zur Zeitmessung innerhalb eines militärischen Kontextes. Bei den anderen Quellen hingegen stellt sich die Frage, ob sich Erkenntnisse zu einer wissenschaftlichen, aber auch einer allfälligen sozialen und symbolischen Dimension von Zeiterfassung gewinnen lassen.

Literatur:

Hatz, Christine, Spuren keltischer Zeitmessung in der späten Eisenzeit, in: Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas 99, „Wert und Maß“ – Systeme ökonomischer und sozialer Differenzierung in der Eisenzeit, Beiträge zur Jahressitzung der AG Eisenzeit bei der gemeinsamen Tagung des WSVA und des MOVA vom 1.–5. April 2019 in Würzburg, Hrsg. Holger Wendling et al., Beier & Beran, Langenweissbach 2022, 37-46.
 

1.3 Forschungsprojekt: Pythagoreische Elemente im Weltbild der Kelten?

Collegium Beatus Rhenanus, Forschungsprojekt CBR „Weltbild-Konzepte von Raum und Zeit“

Forschungsfokus: Wissen und Vorstellungen über Raum und Zeit innerhalb der spätkeltischen und gallo-römischen Elite: Gibt es Hinweise auf Elemente eines «pythagoreisch-platonischen» Weltbildes?

Methodischer Schwerpunkt: Kontextualisierung und Neuinterpretation der relevanten schriftlichen und archäologischen Quellen mit Hilfe der „Sprache der Mathematik“, insbesondere Geometrie und Zahlen (Zahlensystem, Zahlensymbolik).

Ausgehend von dieser Fragestellung analysieren wir im spätkeltischen und gallo-römischen Kontext Spuren und Hinweise zum Thema Raumordnung, Zeitordnung (Kalender) und Zahlensystem und suchen nach Beziehungen zu gängigen antiken philosophisch-mathematischen Kosmos-Vorstellungen.

 

Teilprojekt 2

Rolf d’Aujourd’hui

Die quantitative Erfassung des Raumes in spätkeltischer Zeit 
Zugang in der Sprache der Mathematik


Voraussetzungen für eine quantitative Erfassung des Raumes sind Kenntnisse in der mathematischen Geografie sowie der Technik des Vermessens und die Verwendung eines geeigneten Mass- und Zahlensystems.
 

2.1 Untersuchungen eines spätkeltischen Vermessungssystems

Ausgangspunkt unserer Untersuchungen sind 5 gleichnamige markante Berge, mit dem ursprünglich keltischen Toponym "Belchen", französisch Ballon, die am Rande der Oberrheinebene liegen. Die Fragestellung lautet: Was bedeutet die Gleichnamigkeit der Berge? Handelt es sich um einen Zufall oder gibt es dazu eine rationale Erklärung?
Eine mathematische Rekonstruktionsanalyse zeigte, dass es sich dabei um "Landmarks" eines geodätischen Vermessungssystem handeln dürfte, dem die keltische Leuge als Masseinheit zu Grunde liegt. Die Leuge und das diesem Distanzmass zugeordnete antike Stadion scheinen auf den Erdumfang genormt zu sein. Diese Ergebnisse vermögen die in Teilprojekt 1 geäusserten Hypothesen betreffend die Aussagekraft des Caesar-Zitats zu bestätigen.
Die Übertragung der Vorstellungen über den individuellen Lebensraum auf die Erde und das Weltall als Ganzes setzt Kenntnisse über die Kugelgestalt und Grösse der Erde, sowie ein Mass- und ein geeignetes Zahlensystem voraus. Diese und weitere Voraussetzungen für die topografische Umsetzung eines mathematisch- geografischen Denkens unter anderem eine geeignete Masseinheit, scheinen der spätkeltischen Elite bekannt gewesen zu sein.
 

2.2 Grundlagenforschung zur Metrologie

Archäologische Befunde aus der Spätlatène- und teilweise auch gallo-römischen Zeit liefern uns aufschlussreiche Hinweise auf konkrete Manifestationen des keltischen Wissens. Es geht dabei um geometrische Konstruktionsprinzipien, die sich in Siedlungs- und Grabenstrukturen niederschlagen (z.B. der sogenannten „enclos“), sowie um Indizien für Planungskonzepte räumlicher Orientierungssysteme, die in Proportionen und antiken Masseinheiten rekonstruiert werden können.

Unsere metrologischen Studien zeigen, dass bildungsgesetzliche Zusammenhänge zwischen antiken Masseinheiten bestehen, die zum Teil auf den Erdumfang genormt zu sein scheinen. Diese Hypothese gilt auch für das keltische Masssystem, das einer spezifischen Ausprägung eines antiken Masssystems entspricht.

Der wissenschaftsgeschichtliche und metrologische Ansatz ist die Frage, wie die Masseinheiten berechnet und normiert wurden.  Die Existenz keltischer Masseinheiten wird weitgehend auf die Diskussion der Leuge beschränkt. Die Länge der Leuge und deren Verhältnis zur römischen Meile kann aus Schriftquellen und Meilensteinen erschlossen werden. Die Gliederung der Leuge in Stadien ist in den Schriftquellen nicht belegt, sie geht jedoch aus dem Verhältnis Leuge : Meile = 3:2 hervor. Unsere Untersuchungen zeigen, dass ein «vorgallorömisches», keltisches Masssystem bestanden haben dürfte.

Den griechischen, römischen und keltischen antiken Masseinheiten liegen Proportionen in ganzen Zahlen zu Grunde. Das kleinste, den antiken Masseinheiten gemeinsame Mass, ist der Digitus/Daktylus. Im Kanon von Proportion, Mass und Zahl kommen den keltischen, so wie den anderen Massen auch eine symbolische Bedeutung, ein ideeller Wert, zu.

Literatur:

D’Aujourd’hui, Rolf, Gab es ein keltisches Massystem? - Hinweise auf historische und geometrische Zusammenhänge antiker Längenmasseinheiten, in: Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas 99, „Wert und Maß“ – Systeme ökonomischer und sozialer Differenzierung in der Eisenzeit, Beiträge zur Jahressitzung der AG Eisenzeit bei der gemeinsamen Tagung des WSVA und des MOVA vom 1.–5. April 2019 in Würzburg, Hrsg. Holger Wendling et al., Beier & Beran, Langenweissbach 2022, 11-19.
 

2.3 Analyse archäologischer Fundstätten

In Zusammenarbeit mit den zuständigen Kollegen, u.a.:
Sierentz (F), Pulversheim (F), Willer (F), Bibracte (F), Manching (D), Augusta Raurica (CH), Basel- Münsterhügel (CH).