Christian Guerra (2015)

Enea Silvio Piccolominis Commentarii de rebus a se gestis  - Gattungtheoretische und narratologische Überlegungen vor dem Hintergrund der antiken Geschichtsschreibung 

Über die Commentarii de rebus a se gestis des Enea Silvio Piccolomini (1405–1464) ist häufig zu lesen, es handle sich dabei um eine Autobiographie. Ausgehend von einer gattungstheoretischen Überlegung soll gezeigt werden, dass es für die Interpretation des Werkes fruchtbarer (und auch mehr im Sinne des Autors) ist, die Commentarii als historiographisches Werk zu lesen, wobei die autobiographische Argumentation als Teil der literarischer Kompositionsstrategie des Autors zu erachten wäre. Eine gattungstheoretische Herangehensweise ist natürlich nur dann sinnvoll, wenn sie formale und inhaltliche Aspekte in eine sinnstiftende Beziehung zueinander setzt. Wenn also in einem ersten Teil die Entwicklung der Gattungen der Historiographie, der Biographie und der Autobiographie in der griechisch-römischen Antike nachgezeichnet, Traditionslinien von der Antike in die Frühe Neuzeit nachverfolgt und Tendenzen der antiken Historiographie aufgezeigt werden, die in der Humanistischen Geschichtsschreibung fortbestehen, so geschieht dies nicht im Sinne einer «Kreuzung der Gattungen», sondern in Sinne einer Begegnung von Gattungen in einem gemeinsamen Raum, was einem dynamischen Gattungsverständnis entspricht. Ziel dieser Untersuchung ist es, Spezifika der literarischen Form des Commentarius auszuarbeiten und auf Besonderheiten im Werk Piccolominis aufmerksam zu machen.

Wie sich anschliessend in einer punktuellen Lektüre der Commentarii zeigen wird, teilen diese besonders den protreptischen Impetus mit ihren antiken Modellen, wollen also durch die Vermittlung vorbildhafter Taten zu vorbildhaftem Verhalten aufzufordern. Gerade vor dem Hintergrund dieses moralpädagogischen Diskurses sind auch die autobiographischen Partien zu lesen, führen sie doch dem Leser das Beispiel einer vorbildhaften Existenz vor Augen. In diesem Zusammenhang wird auch die «Jesus-Vita» der Evangelien ein wichtiges biographisch-historiographisches Modell darstellen, wohingegen zahlreiche Portraits und Charakterstudien dazu beitragen, ein «moralisches Tableau» der eigenen Zeit zu zeichnen.

Schliesslich wird sich zeigen, dass von der antiken Historiographie auch Erzählschemata übernommen werden, welche die Darstellung der Ereignisse beeinflussen. So evozieren z.B. die Schlachten bei Sarno (7. 7. 1460) und Troia (29. 8. 1462) vor der Folie des 2. Punischen Krieges Cannae und Zama; hierbei tritt die päpstliche Partei als Römer unter der Führung Scipios auf, die profranzösische Partei als Karthager und Hannibal. Die Antike besitzt also eine prominente Rolle bei der Gewinnung einer Perspektive zur Gegenwart und wirkt sich als kulturelles Modell auf das «echte» Leben aus und verändert es.